ZfdA 140 (2011), S. 416-420

Mittelalter-Philologie im Internet

38. Beitrag: Digitalisierung mittelalterlicher Handschriften aus Sicht der Forschung

von Thomas Haye und Stephan Müller

Positionspapier auf Grundlage eines DFG-finanzierten Arbeitsgesprächs an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel.

I. Präambel

Deutschland befindet sich in einer Phase intensiv betriebener und mit einem hohen finanziellen Aufwand verbundener Digitalisierung seiner historischen Bestände. Für die Mediävistik und Frühneuzeitforschung stellt hierbei die Digi­talisierung der dem Mittelalter und der Renaissance entstammenden Hss. ein zentrales Feld dar. Die große Zahl der vor Kurzem abgeschlossenen, zur Zeit laufenden und gerade beantragten Digitalisierungsprojekte, welche von der DFG und anderen Institutionen gefördert werden, stellt nicht nur die Bibliotheken vor große Herausforderungen; auch der fachwissenschaftliche Umgang mit den Codices (in Forschung und Ausbildung) ändert sich durch die neuen technischen Möglichkeiten in einer radikalen Weise.

Digitalisate sind dabei sehr begrüßenswerte Hilfsmittel, die die Forschung in vielerlei Hinsicht bereichern werden. Neben den Chancen zeichnen sich aber auch Gefahren ab, die etwa darin bestehen, dass sich zwischen den Handschriften­benutzer und die Hss. trennend eine neue technische Ebene schiebt. Auf eine solche Trennung müssen die technische Einrichtung, die optische Präsentation und die dem Digitalisat beigegebenen Informationen (die sog. Metadaten) reagieren. Die Suggestion einer schrankenlosen Verfügbarkeit hat ihren Preis, der nicht nur im Verlust verschiedenster Formen der Materialität des Codex beim Umgang mit Digitalisaten besteht. Auch stehen die klassischen und bewährten Standards der Beschreibung und der wissenschaftlichen Benutzung von Hss. vor neuen Herausforderungen. Die teils sehr heterogenen Digitalisierungsprojekte müssen solche Aspekte antizipieren, so dass sichergestellt ist, dass ihre Ergebnisse auch tatsächlich zur Grundlage seriöser Forschung werden können.

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen fand am 6. Mai 2011 an der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel (HAB) ein von der DFG gefördertes Arbeitsgespräch statt, an dem ein kleiner, ad hoc zusammengestellter Kreis handschriftenbezogen arbeitender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilnahm (Christine Glaßner, Thomas Haye, Felix Heinzer, Christian Heitzmann, Christoph Mackert, Stephan Müller, Peter Orth, Lieselotte E. Saurma, Eva Schlotheuber, Thomas Stäcker).

Das nun vorliegende Positionspapier, welches die Ergebnisse des Arbeits­gesprächs pointiert wiedergibt, soll nicht nur dazu dienen, aus der Perspektive der Fachwissenschaften Probleme der und Anforderungen an die Digitalisierung zu formulieren. Es soll auch dazu beitragen, finanzielle oder strategische Fehlentwicklungen innerhalb der technischen Revolution zu vermeiden und die Digitalisierung auf die Bedürfnisse der primären, d.h. fachwissenschaftlichen Nutzer abzustimmen. Das Papier versteht sich nicht als wissenschaftsphilosophische Grundlagenreflexion des Themas 'Konsequenzen der Digitalisierung', sondern exponiert eine Reihe von zentralen Aspekten, die den am Gespräch beteiligten Wissenschaftlern wichtig erscheinen und einen aktuellen und zukünftigen Handlungsbedarf nach sich ziehen.

Der konkrete Anlass der Initiative bestand darin, dass die DFG ein Strategie­papier der DFG-Handschriftenzentren zur Digitalisierung der Handschriften­bestände in den dt. Bibliotheken angeregt hatte. Neben ein solches Strategiepapier sollte als Ergebnis des HAB-Gesprächs ein fachwissenschaftliches Positionspapier treten, das komplementär die spezifischen Bedürfnisse und Anliegen der Forscher zum Ausdruck bringt. Damit sollen die DFG und andere fördernde Institutionen für die zukünftige Planung ihrer Digitalisierungsstrategien auf die Positionen der drei wichtigsten am Prozess beteiligten Partner zurückgreifen können: Bibliotheken als wichtige Antragsteller, Handschriftenzentren als zentrale Exekutive, Wissenschaftler als primäre Nutzer.

II. Positionspapier

Es wird empfohlen, dass die DFG und andere fördernde Institutionen bei ihrer zukünftigen Digitalisierungsstrategie die folgenden Punkte berücksichtigen:

1. Förderpolitik

Die Förderung der Digitalisierungsprojekte darf nicht zu Lasten der anderen, in der Vergangenheit bewährten Forschungs- und Konservierungsformate gehen. Digitalisierung ist keine Grundlagenforschung, sondern nur ein weiteres Instrument zur Ermöglichung von Grundlagenforschung. Sie ersetzt keine Katalogisierung (mit Tiefenerschließung), keine kritische Textedition, keine Bibliotheksreise und keine konservatorische Betreuung durch bibliothekarisches Fachpersonal. Die Betrachtung des historischen Bestandes per Autopsie zur Erforschung der Materialität des Codex bleibt unerlässlich.

Die Forschungsförderung durch die DFG erfordert stets einen wissenschaftlichen Mehrwert. Eine isolierte Digitalisierung nicht katalogisierter Hss. ist daher unsinnig. Deshalb sollte die DFG bei Digitalisierungsanträgen stets auch ein ergänzendes und flankierendes Konzept zur Erschließung verlangen, welches die etablierten Standards berücksichtigt. Dabei sollte die Präsentation von Digitalisaten mindestens durch eine Beigabe der von der 'Bestandsliste' geforderten Informationen unterfüttert werden. Digitalisate ohne seriöse, benutzbare und vergleichbare Metadaten darf es nicht geben.

2. Verfügbarkeit

Auch nach einer Digitalisierung muss das handschriftliche Original verfügbar bleiben. Das Vorhandensein eines Digitalisats darf der besitzenden Institution nicht als Vorwand dienen, um den betreffenden Codex dauerhaft dem wissenschaftlichen Benutzer zu entziehen (Ausnahme: gravierende konservatorische Gründe). Bei Antragstellung sollte sich die jeweilige Institution dazu verpflichten, den Codex dauerhaft für eine Untersuchung per Autopsie bereitzuhalten.

3. Selektion und Priorisierung

Grundsätzlich ist die Digitalisierung aller überlieferten mittelalterlichen abendländischen Hss. (d.h. auch der Fragmente) wünschenswert. Aus ökonomischen Gründen ist jedoch eine Priorisierung notwendig. Die Digitalisierung sollte sich seitens der Bibliotheken primär an Fonds und historisch geschlossenen Kollektionen orientieren, daneben sollten auch Projekte beantragt werden können, bei denen eine wissenschaftliche und thematisch begründete Selektion vorgenommen wird. Nicht sinnvoll ist eine Auswahl, welche nur die jeweiligen Zimelien berücksichtigt.

4. Offenheit

Wissenschaftliche Fragestellungen sind einem ständigen Wandel unter­worfen. Gerade die Digitalisierung löst zahlreiche neue Untersuchungs­methoden und -perspektiven aus. Die Präsentation von Digitalisaten sollte daher in technischer Hinsicht möglichst offen, flexibel und ausbaufähig sein. Es ist hierzu insbesondere wünschenswert, dass die XML-Standards eingehalten werden. Zudem sollte es stets möglich sein, die flankierenden Metadaten durch zusätzliche Informationen anzureichern, welche sich aus den neuen Fragestellungen ergeben.

5. Referenzgröße

Bei der Digitalisierung muss der Codex die entscheidende Referenzgröße sein, nicht etwa der überlieferte Text oder das enthaltene Bild. Es ist daher wichtig, alle visuellen Aspekte des Codex digital zu zeigen, also auch die Leerseiten, den Buchschnitt, den Buchrücken, den Einband, den gesamten Buchblock, die komplette Einzelseite (ohne Abschneiden der Ränder). Ferner sollte eine freie Skalierbarkeit gewährleistet sein und eine Doppelseitenansicht angeboten werden.

6. Verknüpfung auf zentraler Plattform

Die Ergebnisse der verschiedenen Digitalisierungsprojekte sollten auf zentralen Plattformen zusammengeführt werden. Hierzu sind zwei Verknüpfungskonzepte notwendig:
a) Notwendig ist im ersten Schritt ein technisch überzeugendes nationales Portal, dessen Stabilität und Dauerhaftigkeit in technischer und finanzieller Hinsicht gesichert ist. Es sollte vielfältige Such- und Browsingfunktionen anbieten. Zur Erreichung des Ziels muss das (bislang noch unbefriedigende) Portal 'Manuscripta Mediaevalia' dringend weiterentwickelt werden.
b) Im zweiten Schritt ist die strategische Beteiligung der DFG am Aufbau einer internationalen Plattform wünschenswert. Denkbar ist hier auch eine Verlinkung mit anderen, bereits bestehenden nationalen und internationalen Plattformen.

7. Bekämpfung der Anonymisierung

Die Benutzung eines Digitalisats führt zur Anonymisierung und Entfremdung des Benutzers sowohl gegenüber der den Codex besitzenden Bibliothek als auch gegenüber den anderen Forschern, welche über dieselbe Hs. arbeiten. Deshalb sollten bei der digitalen Präsentation kommunikationsfördernde Icons und Links eingerichtet werden (z.B.: "Über diese Handschrift wird gerade geforscht. Wenden Sie sich für weitere Informationen bitte an die Biblio­thek." Oder: "Wenn Sie in monographischem oder editorischem Rahmen über diese Handschrift arbeiten, geben Sie uns bitte eine kurze Information."). Stets sollte das Datum der Digitalisierung angegeben werden. Wichtig ist es, soweit datenschutzrechtliche Vorgaben dies erlauben, einen Hinweis zu geben, wer die Digitalisierung veranlasst hat (besonders bei on demand-Digitalisierungen).

8. Opacisierung

Viele Bibliotheken haben ihre Hss. in die OPACs aufgenommen. Dieser ahistorische Zugriff kann grundsätzlich sinnvoll sein, jedoch wird das Auffinden des einzelnen Codex in der Regel dadurch erschwert, dass dieser technisch wie ein Druck behandelt wird (mit "Erscheinungsjahr", "Erscheinungsort" und erfundenem Titel). Historisch abwegige Zuordnungen ("Druckort") sollten nicht vorgenommen werden. Es wird zudem empfohlen, zukünftig die jeweilige Signatur als "Titel" zu verwenden (und erst sekundär eine erfundene Schlagzeile anzufügen).

9. Standards

Bei allen Digitalisierungsprojekten sollten bestimmte Standards eingehalten werden.
a) Grundsätzlich darf kein Digitalisat ohne Metadaten präsentiert werden.
b) Die Metadaten müssen bestimmten Mindestanforderungen genügen (s. Bestandsliste) und in Zugriffsebenen oder -schichten organisiert sein. Auf der obersten Ebene sollten die Daten einheitlich präsentiert werden; darunter können je nach Forschungsstand weitere Ebenen unterschiedlicher Erschließungstiefe angeordnet werden.
c) Jedes Digitalisat muss durch Strukturdaten aufbereitet sein. Die Bildbenennung sollte der im Codex vorgenommenen Foliierung/Paginierung und den Vorgaben des DFG-Viewers folgen. Außerdem sollten ein Größenmaßstab und ein Farbkeil beigefügt sein.

10. Technische Forderungen

Über das in den Praxisregeln Genannte hinaus sollten die folgenden technischen Möglichkeiten bestehen, die möglichst bedienerfreundlich umzusetzen sind:
a) die Möglichkeit, sowohl das gesamte Dokument als auch die Einzelseite herunterzuladen;
b) die Möglichkeit, mehrere Fenster/Tools nebeneinanderzulegen, so dass Vergleiche bequem durchgeführt werden können (Lichtpultfunktion).
c) Die persistente URL oder URN sollte einfach und deutlich erkennbar sein.
d) Die auf Eigenwerbung der Bibliothek abzielende Rahmung sollte reduziert bzw. ausgeblendet werden können (Vollbildfunktion).
e) Es sollte eine Verknüpfung mit weiteren Metadaten und Digitalisaten durchgeführt werden, welche sich auf dazugehörende Einbände, Fragmente etc. beziehen, die vormals zum Codex gehört haben, nun jedoch separat aufbewahrt werden.

Prof. Dr. Thomas Haye, Zentrum für Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, Abt. für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit, Humboldtallee 19, D–37073 Göttingen
E-Mail: thomas.haye@phil.uni-goettingen.de
O. Univ.-Prof. Dr. Stephan Müller, Institut für Germanistik, Dr. Karl Lueger Ring 1, A–1010 Wien­
E-Mail: stephan.mueller@univie.ac.at
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